Die älteren Mitbürger werden aus ihrer Jugendzeit sicherlich noch die Erinnerung an die schmissige Musik des amerikanischen Soldatensenders AFN haben, der auch in Harleshausen jahrelang sehr gut zu empfangen war. Die als „Negermusik“ gebrandmarkten neuartigen Rhythmen wurden nicht bei allen damals älteren Hörern positiv empfunden, man hatte ja noch andere Klänge im Ohr …
In dem nachfolgenden Artikel sind die bis dato noch erhältlichen Fakten aus Erinnerungen und wenigen Unterlagen zusammengefasst.
Zu der Zeit, als die amerikanischen Soldaten in Rothwesten (militärische Abhörstation) und Kassel stationiert waren, entstand in Frankfurt/Main gleich nach 1945 zunächst im requirierten IG-Farbenhaus und später neben dem Sendegebäude des Hessischen Rundfunks (damals „Radio Frankfurt“), der Soldatensender „American Forces Network“, kurz AFN, der durch sein fetziges Musikprogramm und seine Diskjockeys (Bill Ramsey war einer davon) auch bei deutschen, meist jungen Hörern sehr beliebt war [3].
Der erste AFN Kassel war zunächst nur eine kurzzeitig aktive Station mit einer kleinen Mannschaft. Die Sendungen begannen bereits im Oktober 1945. Die Station war in einem Haus am Stadtrand von Kassel untergebracht. Der genaue Standort ist nicht überliefert. Es wird aber vermutet, dass die unzerstörte „Villa Crede“ (heute Gelände des DEZ) das Studio beherbergte. Nach einem alten, sehr undeutlichen Foto ist ein Raum mit Fenster und Gardinen zu sehen. Neben dem Sender BC 610 steht auf einem Tisch ein Plattenspieler. Ein GI telefoniert gerade. Offenbar ist das eine Innenaufnahme des Kasseler Studios, das am Anfang der Sendetätigkeit aus Kassel bestanden hat. Näheres konnte auch von dem Heimatverein in Kassel-Niederzwehren nicht mehr ermittelt werden, da Zeitzeugen oder andere Quellen nicht mehr vorhanden sind.
Für den Aufbau der AFN Sender in der amerikanischen Zone war ein Hendrik Booraem zuständig. Weil viele Soldaten wieder nach USA zurückkehrten, gelang es Booraem nicht, Freiwillige mit Erfahrung in Radiotechnik als Verantwortliche zu rekrutieren. Letztendlich wurde ein Techniker der Armee mit der Installation beauftragt. Ein Lieutenant wurde als Verantwortlicher eingesetzt. Die Sendefrequenz wurde von 601 KHz nach 1447 KHz gewechselt und AFN Kassel sendete ein eigenes und das im AFN Frankfurt produzierte Programm.
Im Juni / Juli 1946 installierte der Chefingenieur des AFN Frankfurt/M, Al Chesavage, einen neuen Sender vom Typ BC610, der mit etwa 300 Watt Sendeleistung den Betrieb aufnahm.
Es muss in 1945/46 auch ein Studio beim AFN Kassel gegeben haben. Denn William F. Hildenbrand, Secretary of the Senate 1981-1985, berichtete in einem amerikanischen Interview von 1985, dass er als Leiter eines Kasseler Kriegsgefangenenlagers abberufen wurde und als Sportreporter und Discjockey beim Studio des AFN -Kassel bis zu dessen Schließung gearbeitet hat. Die Mitarbeiter des Senders hatten Hildenbrand um Personalhilfe aus dem Gefangenenlager gebeten. Im Gespräch zeigte sich H. an einer Mitarbeit beim AFN als Sportreporter interessiert und wurde sogleich engagiert. [2].
Das Kriegsgefangenenlager befand sich in Kassel-Niederzwehren, also in der Nähe des mutmaßlichen Standortes des AFN-Studios (Villa Crédé).
Im März 1946 wurde der Sender Kassel wieder abgeschaltet und am 22.12.1946 wurde der Sendestandort geschlossen.
Der Grund für das Ende des kurzen Auftrittes des AFN Kassel ist recht kurios. Die amerikanische Kripo (CID) hatte kurz vorher in Berlin bei dem im AFN Kassel eingesetzten Techniker, Zigaretten im Wert von $17.000 beschlagnahmt und den ertappten Soldaten ins Militärgefängnis eingeliefert. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass die gesamte Mannschaft des AFN Kassel an der Strafsache beteiligt war. Der Operationschef Booraem war also gezwungen, in seinem Nebensender AFN Kassel entsprechende Personalmaßnahmen zu treffen.
Die Army sah nach der Schließung des AFN Kassel (übrigens die erste Außerbetriebnahme eines AFN Senders in der amerikanischen Zone) zunächst keine weitere Notwendigkeit, im Raum Kassel einen neuen Sender zu installieren.
Diese vorstehenden Informationen hat der amerikanische Historiker Dr. John Provan aus Kelkheim der Kaufunger Historikerin Barbara Orth in 2014 zur Verfügung gestellt.
Die Sendungen aus Frankfurt waren tagsüber in Kassel wegen der sogenannten Tagesdämpfung bei den Ausbreitungsbedingungen auf Mittelwelle nur schwer zu empfangen. Das gleiche Problem hatte Radio Frankfurt in den Vorkriegsjahren tagsüber ebenfalls und wurde damals auf Drängen des „Radioklub Cassel“ mit der Errichtung des Kasseler Senders in der alten Hauptpost in 1925 gelöst.
Die amerikanische Armee entschloss sich dann doch wegen der schwierigen Empfangsverhältnisse wieder, die zahlreichen Truppen und ihre Familien im Raum Kassel, Rothwesten und Fritzlar mit heimatlichen Klängen besser zu versorgen. Als neuer Standort wurde das „Aschrottheim“, das die Amerikaner 1945 zum „Hotel Waldorf“ umfunktioniert hatten, ausgewählt.
Das Aschrottheim war bis 1945 Altersheim für jüdische Bürger und während der Nazizeit in „Tannenkuppenheim“ umbenannt worden.
Der Harleshäuser Bürger Fritz Betche versuchte nach dem Kriegsende in Kassel Arbeit zu finden. Die Amerikaner suchten über die Arbeitsvermittlung deutsche Mitarbeiter für verschiedene Bereiche und Arbeiten. Aus den Reihen der Soldaten war niemand für Radio- und Sendetechnik zu finden. Fritz Betche geriet an einen amerikanischen Offizier, der ihn fragte, ob er einen großen Sender bedienen könne. Fritz antwortete spontan mit „Ja“, obwohl er diese Tätigkeit noch nie ausgeführt hatte.
Der Offizier führte ihn in den damals von den Amerikanern als Hotel beschlagnahmten „Glaspalast“ am Aschrottpark in einen Raum auf der Westseite im ersten Stock. Dort stand ein schrankgroßer amerikanischer Militärsender mit der Typenbezeichnung „BC 610“. Diese Geräte waren für große Frequenzbereiche ausgelegt und produzierten rund 1 Kilowatt Sendeleistung in Amplitudenmodulation.
Neben dem Sender ragte ein Kabel aus der Wand. Der Offizier erklärte Fritz, dass dies die Postleitung mit dem Programm des Frankfurter AFN-Senders sei, die er nur an den Sender anschließen müsse. Auf die Frage nach der Antenne für den Sender meinte der Offizier, die müsse Fritz selbst bauen. Auch die vorgesehene Mittelwellenfrequenz war völlig unbekannt, Fritz solle an einem Empfänger eine freie Stelle im Mittelwellenbereich suchen. Er machte sich an die Arbeit, besorgte eine Tanne, stellte sie im Vorgarten auf, berechnete und spannte den Antennendraht. Inzwischen hatte er auch eine brauchbare freie Frequenz im Mittelwellenbereich gefunden und gab die Information an seinen Chef Alwin D. Sisk, weiter. Als lizensierter amerikanischer Funkamateur hatte Sisk das deutsche Rufzeichen DL4AH erhalten. Einige Tage später übergab Sisk den Steuerquarz für die von Fritz Betche ausgewählte Mittelwellenfrequenz und der Betrieb konnte losgehen. Abends musste Fritz den Sender für Amateurfunk auf Kurzwelle für DL4HA umprogrammieren. Sisk wohnte in Fritzlar und hatte eine eigene Telefonleitung von Fritzlar zu dem AFN-Sender Kassel besetzt. Nach Sendeschluss um 23 Uhr funkte Sisk meist auf dem 20m-Band mit seinen Funkfreunden in USA und aller Welt.
Inzwischen hatte Fritz auch sein eigenes Amateurfunkrufzeichen DL6QY erhalten. Zur Hochzeit von Fritz im Wilhelmshöher Weg in Harleshausen war natürlich auch sein AFN-Chef eingeladen. Die Platten mit der amerikanischen Tanzmusik, die Fritz vorab vom AFN-Sender Frankfurt heimlich organisiert hatte, traute er sich in Anwesenheit seines Chefs nicht zu spielen. So lief deutsche Tanzmusik auf der Hochzeitsfeier, was dem Amerikaner gar nicht gefiel. Kurz entschlossen fuhr Sisk zum Kassler AFN, startete die Anlage, und ließ in Frankfurt einen Tontechniker Überstunden machen, der dann die ganze Nacht amerikanische Tanzmusik auflegen musste. Der AFN Kassel sendete in dieser Nacht nur für die Hochzeitsgesellschaft von Fritz Betche in Kassel- Harleshausen….
Der Chef hatte aber noch ein zweites Hobby: Zierfische. Im Senderaum nahm die Zahl der von Fritz zu pflegenden Aquarien zu. Irgendwann gingen plötzlich alle Fische aus unerfindlichen Gründen ein. Das gefiel gar nicht und Sisk vermutete Sabotage. Das Arbeitsverhältnis beim AFN Kassel endete für Fritz Betche sehr kurzfristig….
Dennoch sendete der AFN mit neuem Personal auch ohne DL6QY mit seinem interessanten Programm im Glashaus des „Hotel Waldorf“ und mit seinem Relaissender in Rothwesten (1502 kHz und 50 W, später 250 W Sendeleistung [2, 5]) bis Mitte der 60er Jahre , bis sich die Amerikaner aus Kassel und Rothwesten zurückzogen: Der Sender Rothwesten wurde 1973 abgeschaltet (Aussage Ted Buck, DJ3YR). Der Hauptsender im „Glashaus“, der später als Relaissender von AFN -Frankfurt automatisch betrieben wurde, ist am 16.November 1957 abgeschaltete worden.[1, 4].
Fritz Betche war von 1951-1954 der Vorsitzende des Ortsverbandes Kassel im Deutschen Amateur Radio Club. Beruflich verschlug es ihn nach Idstein, wo er als Journalist arbeitete. In den 60er-Jahren hatte er beim HR-Fernsehen sogar eine Nachmittagssendung, in der er technische Vorgänge allgemeinverständlich erklärte. Durch einen Fehler der damaligen Lizenzbehörde war das Rufzeichen DL6QY zweimal ausgegeben worden. Es gab für Fritz Betche keinen Bestandsschutz für sein Rufzeichen, er erhielt dann DL8FAZ neu zugeteilt und betrieb Amateurfunk meist unterwegs aus seinem Auto heraus. Fritz Betche verstarb in Idstein/TS im Jahre 2001.
Bild: Sender BC 610 (Foto: Ted Buck, DJ3YR)
Quellen
[1] www.wabweb.net/radio/listen/LWMWeu47.pdf
[2] senate.gov/artandhistory/history/resources/pdf/Hildenbrand_interview_1.pdf
[3] www.northernstar.no/afrs.htm
[4] www.wabweb.net/radio/listen/LWMWeu62.pdf
[5] Bild: Ted Buck, DJ3YR